Ellen R. Dornhaus
Einführung von Dr. Josef Gülpers zur Ausstellung

Einleitung

In der Vorbereitung auf diese Ausstellung habe ich mir Gedanken gemacht, was Heimat für mich bedeutet. Wieso lebe ich an dem Ort, wo ich lebe? Ist es einem Unfall, einem Zufall, einem Schicksal, einem Missverständnis zu verdanken? Ist es eine bewusste Entscheidung gewesen? Und wenn ja, von wem? Meinen Eltern? Von mir? Ich reise viel, besuche wunderschöne Orte, spannende Städte, ich wandere durch schroffe Gebirge, durch herrliche Täler, ich schwimme in türkisfarbenem Meer, spaziere barfuß unter Palmen, unterhalte mich mit interessanten Menschen - Oft denke ich darüber nach, wie es wohl wäre, dort zu leben, ein kleines Häuschen am Rande eines kleines Dorfes, wo ich auf einer kleinen Terrasse sitzend schreiben kann - Aber ich werde den Gedanken nicht umsetzen. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders als in meinem kleinen Dorf am Rande Aachens zu leben. Was hält mich? Bestimmt nicht das Wetter. Es muss an dem Ort selbst liegen. Da, wo ich zugehörig bin, wo ich sicher bin, wo ich einen Teil der Gemeinschaft bilde. Hier bin ich verwurzelt! Der Ort, den ich Heimat nenne! Unbewusst nehme ich Markierungen meines kleinen Dorfes wahr, ich weiß, wie ich mich drehen muss, um die Kirchturmspitze zu erblicken, ich höre unter tausend Glocken diejenige heraus, die morgens um sieben ertönt, ich kenne die Färbung des neuen Wohnblocks, den Geruch, der aus den Scheunentoren im Herbst weht, das tiefe Rütteln, wenn ein schwerer Lastwagen die Hauptstraße entlangfährt, die Silhouette der wenigen Häuser. In dem Ort, wo ich lebe, wurde schon immer gelebt, gebaut, gehandelt, geliebt und gelitten. Er hat seine ureigene Geschichte, die ihre Spuren hinterließ: seine Architektur, seine Atmosphäre, die kollektiven Gewohnheiten seiner Bewohner, die besondere Sprachfärbung. Wunden und Narben, an denen ich täglich vorübergehe. Und all dies prägte den Ort, die Bewohner und mich. Es ist ein Ort gesammelter Erinnerungen, ein Speicher geronnener Geschichte, ein wie eine Computerfestplatte immer wieder verändertes, überschriebenes kollektives Gedächtnis. Die Kultur dieses Ortes schrieb sich in die Gehirne der Menschen ein. Ich bin Teil seiner Geschichte. Mein Ort ist Teil meiner Geschichte. Ich erinnere mich nicht an bedeutende weltpolitische Dinge, die in meinem kleinen Dorf stattfanden. Ich erinnere mich an den Kirschbaum eine Straße weiter, auf dessen Ästen ich Stunden verbrachte, mir Frucht um Frucht in den Mund schiebend. Ich erinnere mich an die schreckgeweiteten Augen des Nachbarjungen, als ihn ein gollernder Truthahn bedrohte. Ich erinnere mich an die Aversion eines meiner Freunde gegen Rosenkohl, an das Zweimarkstück, das mir ein Bauer für fünf Stunden Kartoffelsammeln gab. Ich entsinne mich des Geruchs in Fett brutzelnder Fritten, der Samstag Abend aus der nahen Gaststätte durch unsere Straße wehte - Nebensächliche Dinge. Nebensächliche Dinge? Sechzig Jahre alte Erinnerungen. Die Spuren meiner Welt. Aber sind diese Erinnerungen real? Schmeckten die Kirschen wirklich so süß? Blieb dem Nachbarjungen wirklich beinahe das Herz stehen? War die Abneigung meines Freundes gegenüber Rosenkohl wirklich so dramatisch? Habe ich wirklich fünf Stunden an diesem Feriennachmittag Kartoffeln geklaubt? Geschah das wirklich alles so? Oder wuchs und veränderte es sich in meiner Erinnerung? Ist es eine nostalgische Verklärung der Dinge? Ist es meine Sichtweise auf die Dinge, die sich aus meinen Sehnsüchten und meinen Wünschen speiste? Was bedeutet Heimat? Was bedeutet Zuhause?

Der Ort, an dem ich geboren bin?

Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin?

Der Ort, an dem ich lebe?

Der Ort, den ich durch die Sprache begreife?

Der Ort, an dem ich nicht in Frage gestellt werde?

Der Ort, an dem ich die Last der Vergangenheit gegen das Versprechen für die Zukunft eintauschen kann?

Ist das Zuhause die Summe der Erinnerungen an Geschehnisse, die man an diesem Ort erlebte? Ist Heimat eine komplizierte Mixtur aus Sehnsüchten und Stimmungen, die an einem bestimmten Ort kulminieren, dessen Name dadurch zu einem romantischen Sinnbild verklärt wird? Ist dies ein realer Ort? Oder ein imaginärer? Ist es ein spiritueller? Ist es das Ziel einer Suche nach innerem Gleichklang? Rundgang machen, die Künstler unten einzeln beschreiben, dann an Ort und Stelle überlegen, welche Reihenfolge sinnvoll ist. Fünf Künstler haben sich wie ich ebenfalls Gedanken zu diesem Thema gemacht, dies aber in ihrer Weise künstlerisch umgesetzt:

die Berliner Malerin Andrea Imwiehe

Moritz Albert, ebenfalls Maler aus Solingen

der Kölner Bildhauer Armin Künstler

sowie die Fotografinnen Ellen Ruth Dornhaus aus Wachtberg und

Susanne Helmert aus Hamburg

Es ist erstaunlich, auf welch gewaltiger Bandbreite man sich diesem Thema nähern kann.